Angst in Krisenzeiten
Verzweiflung. Überforderung. Weltschmerz.
Angst in Krisenzeiten.
Nicht jede Angst ist behandlungsbedürftig. Im Gegenteil: Ängste sind überlebenswichtig. Wichtig ist, die Kontrolle zu behalten und handlungsfähig zu bleiben
Mit Ängsten gut leben
Angst ist per se nichts Schlechtes. „Manche Menschen können sich auch durch Ängste motiviert fühlen“, erklärt PD Dr. Daniel Schöttle, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Hamburger Asklepios Harburg und Leiter des Zentrums für seelische Gesundheit. „Angst kann eine Antreiberin sein, Überdurchschnittliches zu leisten. Solange sie nicht konstant auftritt, kann sie Entscheidungen und Handlungen auch positiv beeinflussen.“ Aus medizinischer Sicht sei es wichtig, vermeintlich negative Gefühle nicht zwingend zu pathologisieren. „Nicht alles, was sich nicht gut oder schmerzhaft anfühlt, muss sofort behandelt werden“, so der 46-Jährige Psychiater und Psychotherapeut.
Selbst ein eher diffuser Weltschmerz – diffus deshalb, weil in seinen Ursachen so komplex wie überfordernd und in seinen Folgen nicht abschätzbar – kann, ins Positive gedreht, Menschen zu Handlungen motivieren. Gerade die schweren Gefühle können die aktive Suche nach dem anstoßen, was im eigenen Leben als wirklich wichtig erscheint. Sich auf die eigenen Werte auszurichten ermöglicht, sich aus dem Gefühl der Ohnmacht zu befreien und Selbstwirksamkeit zu erleben. Ohnmacht ist das Lebenselixier der Angst. Trostlosigkeit der Nährboden für Ohnmacht. Nehmen Sie daher Ihre Gefühle aufmerksam wahr, hinterfragen Sie sie, kommen Sie mit sich ins Gespräch und ins Handeln!
Es gibt einen Begriff, der den Schmerz über den Verlust des Vertrauten beschreibt: Solastalgie. Die Zusammensetzung aus den lateinisch-griechischen Begriffen für Trost „solacium“ und Schmerz „algia“ umfasst Gefühle wie Trauer, Hilf- und Hoffnungslosigkeit angesichts der aktuellen Lage der Welt. Solastalgie, die Trostlosigkeit mit Blick auf die Zukunft, ist das zeitliche Pendant zur Nostalgie, dem Heim-Weh, das die Trauer um den Verlust von Vergangenem beschreibt. Ein anderes Wort für beide Gefühle ist Schwermut.
Nicht alles, was sich nicht gut oder schmerzhaft anfühlt, muss sofort behandelt werden
Dennoch: Auch wenn viele Menschen auf die Fülle negativer Nachrichten solastalgisch reagieren, so werden sie dadurch nicht automatisch krank. Tatsächlich spiele das Weltgeschehen im Erleben ihrer Patientinnen und Patienten eine weniger große Rolle als die Medien mutmaßlich suggerierten, berichten PD Dr. Daniel Schöttle und Nicole Plinz, Leiterin der beiden Kliniken für Stressmedizin in St. Georg und Harburg, die beide unter dem Dach des Hamburger Zentrums für seelische Gesundheit organisiert sind. „Es sind eher die persönlichen Sorgen, Ängste, Nöte, die unsere Patientinnen und Patienten bewegen“, so Nicole Plinz. „Diese Sorgen werden zwar durch die Krisen der Welt verstärkt, aber nicht ausgelöst.“ Das aktuelle Weltgeschehen könne jedoch auch auf hochverletzliche Menschen treffen und lege dadurch eine möglicherweise schon bereits bestehende Vulnerabilität stärker offen, ergänzt PD Dr. Daniel Schöttle und stellt fest: „Es gibt eine grundlegende Verunsicherung, die durch permanente Krisen-Berichterstattung und die Verfügbarkeit aller Informationen in den Sozialen Medien genährt wird und eine gewisse Hoffnungslosigkeit und Erschöpfung nach sich ziehen kann. Die Beschäftigung mit diesen kann auch bei psychisch gesunden Menschen zu einer Überforderung führen. Bei Menschen, die schwierige oder vielleicht sogar traumatisierende biographische Erfahrungen machen mussten, kann sich diese Überforderung dann im (Wieder-)auftreten einer psychischen Erkrankung zeigen.“
Ohnmacht befördert Angst
Das Weltgeschehen spiele insofern eine Rolle, als dass unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem suggeriert, über Leistung ließe sich alles lösen. „Man muss sich nur genügend anstrengen“, beschreibt Nicole Plinz dieses irreführende Leistungsversprechen der westlich-kapitalistischen Welt. Der Einzelne könne alles richten – ebenso wie das Gesamtsystem: Jahrzehntelang haben wir in der Illusion gelebt, wir könnten mit jeder Herausforderung fertig werden, sei es mit Naturkatastrophen oder Krieg. „Die eigentliche Kränkung unserer Tage ist, dass dieses Versprechen durch die aktuellen Krisen Brüche erfährt oder gar zerbrochen ist“, so Nicole Plinz. „Die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine und in Nahost, sie lassen sich nicht durch immer mehr Leistung in den Griff kriegen. Wir leben in unsicheren Zeiten. Das zentrale Versprechen, alles sei machbar, gilt nicht mehr.“
Erst der Glaube an die Machbarkeit durch Leistung habe in die aktuelle Angstkrise geführt. Nicole Plinz: „Wir dachten, wir haben alles im Griff. Deshalb dachten wir auch, wir können mit unserem Planeten machen, was wir wollen, das lässt sich hinterher alles regeln.“ Mit Angst und Entsetzen registrierten die Menschen nun, dass das nicht stimmt. Es lässt sich nicht nur nicht regeln, es entgleitet uns regelrecht. Dadurch werden Ängste freigelegt, die viele so nicht kannten. Angst aber sei ein Durchlauferhitzer: „Angst macht Beine“, verbildlicht Nicole Plinz das Gefühl. „Wer ständig weglaufen muss, ist im Dauerstress, der unweigerlich zur Erschöpfung führt.“ Ein Großteil ihrer Patientinnen und Patienten litte an Erschöpfung oder Depression.
Die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine und in Nahost, sie lassen sich nicht durch immer mehr Leistung in den Griff kriegen. Das zentrale Versprechen, alles sei machbar, gilt nicht mehr.
Hochleistungssport Leben
In den USA wird der Begriff High Functioning anxiety verwendet: die hochfunktionale Angststörung. Sie beschreibt Menschen, die äußerlich organisiert und erfolgreich wirken, innerlich aber von ihren Ängsten zu Höchstleistungen motiviert werden – oder getrieben, je nachdem, wie man das Verhalten bewertet. Nicole Plinz berichtet von einem Patienten, der eine hohe Position in einem Hamburger Unternehmen einnahm und mit einer schweren Erschöpfungskrise in die Tagesklinik kam. „Als wir gemeinsam reflektierten, was ihn so erschöpft habe, erzählte er, dass er eigentlich nie Karriere machen wollte“, erzählt die erfahrene Therapeutin. „Er brauche eigentlich nur Sicherheit. Deshalb habe er jede Option angenommen, die Sicherheit versprach – und das war dann der jeweils nächste Karriereschub.“ PD. Dr. Daniel Schöttle ergänzt: „Ist Angst und das Streben nach Sicherheit die hauptsächliche Motivation und übergeht man sich kontinuierlich selbst, bleibt häufig die Erschöpfung.“
Ist Angst und das Streben nach Sicherheit die hauptsächliche Motivation und übergeht man sich kontinuierlich selbst, bleibt häufig die Erschöpfung.
In diesen Fällen wirke Angst destruktiv, so Nicole Plinz, selbst wenn sie zu gesellschaftlich hochanerkannten Leistungen führe. Dabei sei es für Patient:innen und Therapeut:innen häufig eine Herausforderung, die Muster zu erarbeiten, die zu der permanenten Überforderung und mangelnden Selbstfürsorge geführt haben: Aufgefangen und gespiegelt in dem Trost spendenden Setting der therapeutischen Sitzung lernt der betroffene Mensch, sich selbst zu trösten. Trost heilt Verletzungen – und vertreibt dadurch die Angst.
Das Wichtigste ist: Kontrolle behalten
Was gegen Angst und Ohnmacht hilft, ist Achtsamkeit. „Ich muss mich fragen, was ich in meinem überschaubaren Bereich für mich und andere tun kann“, rät Nicole Plinz. „Das Wichtigste ist, Kontrolle und Handlungsfähigkeit zu behalten beziehungsweise wiederzuerlangen.“ Dazu müsse man den Blick auf die Bereiche lenken, die man beeinflussen kann. Es geht um Selbstwirksamkeit: Die Erfahrung, dass sich etwas ändert, wenn ich etwas tue. „Die Strategie muss sein: Wo sind die Ansätze, in denen ich etwas bewirken kann, in denen ich mich nicht ausgeliefert fühle, sondern handlungsfähig“, so Nicole Plinz. Und: „Wir sollten anerkennen, dass wir nicht alles in der Hand haben können. Das kann zunächst kränkend sein: zu akzeptieren, dass wir abhängig sind, der angstgesteuerte Leistungsmensch beispielsweise von der Wertschätzung anderer.“ Diese Erkenntnis aber sei der erste Schritt auf dem Weg zu mehr Unabhängigkeit: von der Angst und damit von anderen Menschen.
Das gilt auch für die Solastalgie. Der Begriff an sich ist bereits die Lösung. Es gilt, den fehlenden Trost zu ersetzen, erst sich selbst zu trösten und dann die anderen. Trösten als Handlung, die aus Angst und Ohnmacht führt – und die Welt am Ende doch wieder besser macht.
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