ESMO 2023 - Prof. Dr. Niels Reinmuth von der Asklepios Lungenklinik Gauting berichtet vom europäischen Krebskongress
Vom 20. bis 24. Oktober tauschten auf dem Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für medizinische Onkologie (ESMO) in Madrid Krebsexperten unterschiedlicher Fachgebiete ihre Erfahrungen aus. Ziel des Kongresses ist es, die innovative Forschung für eine optimale Krebsversorgung anzustoßen, wie es dem Motto der Ausgabe 2023 entspricht. „Diesen Kongress muss man als historisch bezeichnen“, lobt Prof. Dr. Niels Reinmuth, Chefarzt der Thorakalen Onkologie der Asklepios Lungenklinik Gauting und Leiter des Lungentumorzentrums München das wissenschaftliche Format auf höchstem Niveau.
Der Präsident der ESMO, Dr. Andrés Cervantes, bezeichnete den Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für Medizinische Onkologie als "eine herausragende wissenschaftliche und pädagogische Veranstaltung für die onkologische Gemeinschaft". Schaut man sich die rund 260 Veranstaltungen an, die auf dem Programm des Jahrestreffens 2023 stehen, welches vom 20. bis 24. Oktober in Madrid stattfand, kann man diese Meinung teilen. Herr Prof. Dr. Reinmuth, was zeichnet den diesjährigen ESMO Kongress besonders aus?
Es gab unglaublich viele Daten, nicht nur zum Lungenkrebs, auch zu anderen Tumoren. Wir haben noch nie so viele hochkarätige Studien auf einem einzelnen Kongress zum Thema Lungenkarzinom gesehen. Es wird einige Medikamente geben, die aufgrund dieser Ergebnisse zugelassen werden.
Finden neue Therapien so schneller den Weg zum Patienten?
Definitiv. Der fünftägige ESMO-Kongress ist neben dem amerikanischen ASCO-Kongress die bedeutendste internationale Tagung dieser Art. Er ist ein Sprungbrett, um die neuesten und vielversprechendsten Ergebnisse der klinischen Onkologieforschung zu verbreiten. Die aktuellsten Studien werden aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert: die der Patienten, der Ärzte, aber auch der Hersteller und der Zulassungsbehörden. Diesen Austausch gibt es nur auf dem ESMO-Kongress. Das war großartig. Einen solchen Dialog würde ich mir für Deutschland viel mehr wünschen. Er gibt Orientierung: Wo stehen wir aktuell? Welchen Patienten soll ich die Teilnahme an welcher Studie empfehlen?
Warum verzeichnet man heute eine so große Anzahl neuer moderner Medikamente?
Weil wir gelernt haben, dass es den einen Lungentumor nicht gibt. Grundsätzlich unterscheidet die Fachwelt zwischen kleinzelligem und nicht-kleinzelligem Lungenkrebs, mit verschiedenen Unterformen. Doch mittlerweile wird immer deutlicher, dass noch viel mehr Varianten existieren – Lungenkrebs als homogene Erkrankung gibt es nicht. Früher hatten wir drei Chemotherapie-Medikamente zur systemischen Therapie. Jetzt differenzieren wir immer in Subgruppen und haben deutlich vielfältigere therapeutische Ansatzpunkte. Das macht die Therapie teilweise sehr komplex. Wir denken stets mehrere Züge voraus, wie beim Schachspiel. Bevor wir den ersten therapeutischen Schritt gehen, überlegen wir uns, welche Möglichkeiten uns danach bleiben.
Welche Therapieformen und neuen Medikamente meinen Sie?
Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen Chemotherapie, zielgerichteter Therapie und Immuntherapie. In unserer Klinik steht der maximal individuelle und best wirksamste Therapieansatz im Mittelpunkt. Die sogenannte zielgerichtete Therapie, das sind Medikamente, die sich spezifisch gegen eine Genveränderung im Tumor richten. Entwickelt werden auch Antikörper, die zielgerichtet wirken. Diese Antikörper werden modifiziert. Manche sind gegen mehrere Ziele gleichzeitig gerichtet, andere werden mit einer Chemotherapie verknüpft, sogenannte Antikörper-Medikament-Konjugate. Diese Entwicklung führte vor wenigen Tagen zu einer neuen Zulassung eines solchen Medikaments.
Ist diese Substanz bereits im Einsatz?
Ja. Das ist der große Vorteil eines Tumorzentrums. Wir warten nicht auf die Zulassung, sondern können das neue Medikament schon früher einsetzen, zumeist entweder im Rahmen von Studien oder anderen Forschungsprogrammen. Essentiell ist aber auch hier der breite Austausch mit Kollegen und anderen Fachdisziplinen sowie eine ständige Bereitschaft, alle neuen Informationen wahrzunehmen.
Profitieren Ihre Patienten jetzt schon von diesen neuen Erkenntnissen?
Ja. Wir werden manche Medikamente nun einsetzen, die wir bisher nicht eingesetzt haben, weil wir noch keine Daten dazu gesehen hatten. Realisiert wird dies zunächst über Einzelfallanträge. Darüber hinaus konnten wir mehrere Studien mit neuen Medikamenten für unser Haus gewinnen. Die Teilnehmenden werden so von der aktuellen Studienlage profitieren.
Kann man sagen, welche Patienten jetzt schon besonders von den neuen Medikamenten profitieren?
Das kann man nicht pauschal sagen. Grundsätzlich kommt die Immuntherapie bei Rauchern oder Ex-Rauchern zum Einsatz. 15 Prozent der Lungenkrebs-Patienten sind Nicht- oder Wenigraucher. Bei ihnen liegen meist Treibermutationen vor. Es gibt aber auch bei Rauchern Treibermutationen. Je mehr wir über die Entstehung der Tumore wissen, desto differenzierter sind die Therapieansätze. Darum müssen wir testen, testen, testen. Auch das ist eine neue Einsicht: Wir werden in Zukunft in allen Tumorstadien testen, teilweise mehrfach.
Auf Chemotherapeutika kann man aber nach wie vor nicht verzichten?
Nein, bisher nicht. Das würden wir uns wünschen. Neuere Chemotherapeutika sind zwar im Vergleich zu früheren Medikamenten besser verträglich, jedoch würden wir gerne spezifischer vorgehen. Eine gute Wirksamkeit ist dennoch in bestimmten Situationen gegeben. Beispielsweise wenn zielgerichtete Therapien nicht mehr wirken. Und auch die neuen Medi-kamente werden nicht ganz ohne Nebenwirkungen sein. Diese sind von Medikament zu Medikament sehr unterschiedlich. Das können Hautveränderungen sein, aber auch Veränderungen der Schilddrüse, der Hormone oder des Magen-Darm-Trakts. Daher müssen wir sehr gut interdisziplinär mit anderen Fachgebieten kooperieren. Auch mit anderen Kliniken, zum Beispiel Unikliniken.
Wie lange müssen Patienten die Medikamente einnehmen?
Bei den neuen Therapien über teilwiese sehr lange Zeiträume. Da müssen wir mit jedem einzelnen Patienten Nebenwirkungen und Nutzen abwägen. Dem Patienten kommt hier eine entscheidende Rolle zu. Er entscheidet über das Ziel: ob maximale Möglichkeit der Lebenszeitverlängerung mit entsprechend stärkerem Therapieansatz oder eher Abhilfe bei den Symptomen, ohne eine lange Behandlung aushalten zu müssen. Während der Therapie müssen wir uns ständig hinterfragen, ob wir das erreichen, was die Patienten wollen, und gegebenenfalls die Behandlung anpassen.
Früher bewegte sich die Überlebenszeit – je nach Stadium – in einem engen Rahmen. Heute haben wir wegen der Heterogenität des Tumors sehr weite Spielräume. Wir begleiten nach wie vor Patienten, die sich sehr schnell verschlechtern und versterben, aber glücklicherweise auch solche, die im metastasierten Tumorstadium seit 10 Jahren ein weitestgehend normales Leben führen.
Welche Empfehlungen können Sie Lungenkrebspatienten geben?
Gehen Sie in ein zertifiziertes Tumorzentrum. Dieses sollte zumindest in die Diskussion der Befunde und Therapien miteingeschlossen sein. Die Deutsche Krebsgesellschaft führte dieses Konzept ein, um eine bestimmte Qualität zu kennzeichnen. In einer neulich publizierten Studie konnte gezeigt werden, dass Lungenkrebspatienten länger überleben, wenn sie in zertifizierten Zentren behandelt werden. Doch noch immer werden 40 Prozent der Lungenkrebspatienten außerhalb von Tumorzentren behandelt. Diese Zahl ist beispielsweise bei Brustkrebspatientinnen sehr viel niedriger.
Das bedeutet nicht, dass die komplette Behandlung in einem solchen Zentrum stattfindet. Derzeit gibt es etwa 73 zertifizierte Tumorzentren in Deutschland. Jeder Patient sollte zumindest einmal in einem solchen Zentrum vorstellig werden. Es kann durchaus sein, dass ein Patient mehrere Tage hintereinander untersucht werden muss. Bestimmte Leistungen werden von den Kassen jedoch nur ambulant übernommen. Aber welcher Patient mietet sich vor Ort in einem Hotel ein? Keiner. Ambulant durchgeführt dauert der Untersuchungsprozess entsprechend länger und die Qualität sinkt. Hier verlieren wir wertvolle Zeit. Stationär ist das in einer Woche machbar.
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