Neues Wahlpflichtfach am ACH: Geschlechterspezifische Medizin
Am Asklepios Campus Hamburg der Semmelweis Universität (ACH) wird im laufenden Herbstsemester erstmalig ein Wahlpflichtfach zur Geschlechterspezifischen Medizin durchgeführt. Dozentin Dr. med. Viyan Sido gibt im Interview Einblicke in dieses neue, spannende medizinische Feld und zu dessen Lehre.
Bereits im Sommer führte Dr. med. Viyan Sido, Fachärztin für Herzchirurgie und Ärztin in Weiterbildung für Allgemeinmedizin, eine Pilotveranstaltung zu ihrem Herzensthema "Geschlechterspezifische Medizin" am Asklepios Campus Hamburg der Semmelweis Universität (ACH) durch, die enthusiastisch von unseren Medizinstudierenden angenommen wurde. Auch die akademische Leitung des ACH sowie Dr. phil. Arne Krause, Leiter der Lehrkoordination und Dekanatsreferent am ACH, und Dr. phil. Thorsten E. Thiel, Geschäftsführer der Asklepios Medical School GmbH, waren begeistert. Dank der engagierten Planung aller Beteiligten geht das von der Semmelweis Universität zügig akkreditierte Wahlpflichtfach bereits in diesem Herbstsemester in die Umsetzung. Und wird hoffentlich viele Studierende am ACH dazu animieren, zum Thema zu forschen und ihre Diplomarbeit oder eine wissenschaftliche Publikation darüber zu verfassen.
Im Interview mit dem ACH beantwortet Dr. Viyan Sido unsere Fragen zu ihrem Interesse und Engagement für die Geschlechterspezifische Medizin, zu ihrer Arbeit als Ärzt:in in diesem Bereich und zur Umsetzung der Lehre der Geschlechterspezifischen Medizin heute und in Zukunft.
Interview
ACH: Liebe Frau Dr. Sido, der Begriff "Geschlechterspezifische Medizin" bekommt in letzter Zeit mehr Aufmerksamkeit. Aber was bedeutet das eigentlich?
Dr. Sido: Frauen und Männer haben oft unterschiedliche Symptome für die gleichen Krankheiten, reagieren unterschiedlich auf Medikamente und haben verschiedene Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen. Bei einem Herzinfarkt beispielsweise haben Frauen oft weniger typische Symptome wie Übelkeit, Müdigkeit oder Schmerzen im Oberbauch, während Männer häufiger die klassischen Brustschmerzen verspüren – was bei Frauen häufig zu einer verspäteten Diagnose führen kann. Frauen und Männer können aber auch bei Medikamenten unterschiedlich auf die gleiche Dosierung eines Medikaments reagieren. Frauen benötigen oft geringere Dosen aufgrund von Unterschieden im Körpergewicht, Fettanteil und Hormonhaushalt. Frauen sind auch häufiger von bestimmten Nebenwirkungen betroffen. Beispielsweise reagieren sie empfindlicher auf Schmerzmittel und Psychopharmaka. Das haben zahlreiche Studien gezeigt.
Die Geschlechterspezifische Medizin zielt darauf ab, diese Unterschiede in den Behandlungsansätzen zu berücksichtigen und dadurch eine bessere, individuellere Versorgung zu gewährleisten. Frauen wurden in der Vergangenheit lange in der Forschung unterrepräsentiert, was zu einer schlechteren Gesundheitsversorgung beziehungsweise falschen oder verzögerten Diagnostik geführt hat. Das sind einige der Gründe, weshalb ich mich für dieses Thema so besonders einsetze. Aus meiner Sicht als Herzchirurgin ist dieses Thema sehr relevant.
Und letztlich ist Geschlecht vielschichtiger ist als nur "Mann" und "Frau". Sich für Geschlechterspezifische oder Geschlechtersensible Medizin einzusetzen bedeutet, diese Vielfalt zu berücksichtigen und eine Medizin zu schaffen, die auf alle Menschen abgestimmt ist.
ACH: Wie kamen Sie persönlich mit der Geschlechtsspezifischen Medizin in Berührung?
Dr. Sido: Mein Interesse an Geschlechterspezifischer Medizin wurde während eines Nachtdienstes geweckt. Ich hatte beobachtet, dass wir oft Frauen und Männern die gleiche Medikamentendosierung verabreichten, und fragte mich, ob das wirklich die beste Vorgehensweise ist. Diese Zweifel führten mich dazu, mich intensiver mit geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Medizin zu beschäftigen. Ich sehe heute die Notwendigkeit, individuelle medizinische Ansätze zu entwickeln, um die bestmögliche Versorgung für alle Patient*innen zu gewährleisten. Anfang 2022 habe ich gemeinsam mit meinem Professor am Herzzentrum Brandenburg in der Klinik für Herzchirurgie in Bernau eine geschlechtsspezifische Ambulanz ins Leben gerufen, die sich auf eine spezielle Frauensprechstunde konzentriert hat. Frauen haben oft unterschiedliche gesundheitliche Bedürfnisse und Herausforderungen, die in der regulären Versorgung nicht immer ausreichend berücksichtigt werden. In einer solchen Ambulanz können gezielt geschlechtsspezifische Gesundheitsfragen behandelt und individuell angepasste Therapien angeboten werden.
ACH: Forschen Sie neben Ihrer ärztlichen Tätigkeit auch zu dem Thema?
Dr. Sido: Aufgrund meines Masters in Public Health beschäftige ich mich intensiv mit den Hintergründen und der Umsetzung einer solchen Frauensprechstunde, einschließlich der politischen und wirtschaftlichen Aspekte. Am Asklepios Campus Hamburg, wo ich ja das Wahlpflichtfach "Geschlechterspezifische Medizin" unterrichte, planen wir aufgrund der großen Nachfrage von Studierenden demnächst Diplomarbeiten zu diesem Thema. Darüber hinaus bin ich Gastwissenschaftlerin am Herzzentrum Brandenburg in Bernau, wo ich weiterhin meine Forschungsdaten habe und forsche.
ACH: Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Lehre der Geschlechterspezifischen Medizin, beispielsweise mit Blick auf die geplante neue Ärztliche Approbationsordnung?
Dr. Sido: Die Lehre der Geschlechterspezifischen bzw. Geschlechtersensiblen Medizin ist zwar in Bewegung, aber noch lange nicht ausreichend etabliert. Trotz einiger Fortschritte in der medizinischen Ausbildung bleibt viel zu tun, um Gender-Aspekte flächendeckend und systematisch in die Ausbildung von Mediziner*innen zu integrieren. Die Änderung der geplanten Approbationsordnung sieht glücklicherweise vor, gendersensible Themen in die Ausbildung von Mediziner*innen zu verankern, was einen positiven Schritt darstellt. Allerdings ist es bisher nur ein übergreifendes Ziel und kein fest etablierter, obligatorischer Bestandteil der gesamten Ausbildung.
Einige medizinische Fakultäten, wie ja auch der Asklepios Campus Hamburg, bieten bereits Geschlechterspezifische Medizin als Wahlpflichtfach oder einzelne Vorlesungen und Seminare an. Diese Angebote sind jedoch stark von der jeweiligen Hochschule abhängig. Aber immerhin haben wir inzwischen einen zusätzlichen Lehrstuhl für Geschlechtersensible Medizin an der Universität Magdeburg, es geht also in die richtige Richtung.
ACH: Welche Themenfelder umfasst das Wahlpflichtfach „Geschlechterspezifische Medizin“ am ACH?
Dr. Sido: Es geht darum, Medizinstudierende für die biologischen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu sensibilisieren und deren Auswirkungen auf Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge zu verstehen. Und auch die Auseinandersetzung mit pharmakologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen wird Teil des Kurses sein. Weiterhin wird „Geschlechtersensible Kommunikation“ im Wahlpflichtfach angeboten. Ein von den Student*innen gewünschtes Thema war auch das Thema „Rassismus in der Medizin“.
ACH: Wie erleben Sie die (Vor-)Kenntnisse der Studierenden am ACH und ihr Interesse an dem Thema? Gibt es hier geschlechtsspezifische Unterschiede?
Dr. Sido: Viele Studierende verfügen aktuell noch über eher begrenztes Wissen zu genderspezifischen Unterschieden in der Medizin. Doch das Interesse, diese Wissenslücken zu schließen, ist deutlich spürbar, insbesondere wenn sie erkennen, wie relevant das Thema für den medizinischen und klinischen Alltag ist. Die Nachfrage nach dem Wahlpflichtfach steigt kontinuierlich: Während im ersten Kurs lediglich ein männlicher Student teilnahm, ist die Geschlechterverteilung im zweiten Kurs nahezu ausgeglichen.
ACH: Was sind Ihre Wünsche an unsere Studierenden, den Ärzt*innen der Zukunft, zum Thema?
Dr. Sido: Mein Wunsch an die Studierenden ist es, sich offen und kritisch mit gendersensibler Medizin auseinanderzusetzen und ihre Bedeutung für die tägliche Praxis zu erkennen. Gendersensible Unterschiede sind kein Randthema, sondern betreffen alle medizinischen Disziplinen und können den Unterschied zwischen einer guten und einer optimalen Behandlung ausmachen. Letztlich liegt es an uns Ärzt*innen der Zukunft, eine Medizin zu gestalten, die inklusiver, gerechter und wissenschaftlich fundierter ist.
ACH: Vielen Dank für dieses interessante Gespräch!