RV 27: Geriatrie
Dr. med. Michael Lerch MBA, Chefarzt der Geriatrie der Asklepios Klinik (AK) Wandsbek, hat am 8. April am Asklepios Campus Hamburg der Semmelweis Universität (ACH) im Rahmen der Ringvorlesung Asklepios Centers of Excellence am ACH seine Geriatrische Exzellenzabteilung vorgestellt.
Begrüßt und vorgestellt wurde er von Prof. Dr. med. Karl J. Oldhafer, Repräsentant des Rektors der Semmelweis Universität und des Dekans der dortigen Medizinischen Fakultät am ACH. „Ich genieße selbst jede dieser Ringvorlesungen, da ich ebenso wie die Studierenden regelmäßig viel Neues erfahre“, bekannte er eingangs. Auch dieses Mal wurde er nicht enttäuscht. Dr. Michael Lerch verstand es, in seinem online-Vortrag die Altersmedizin mit einer Dichte an Charts und Informationen genauso umfassend wie unterhaltsam vorzustellen. „Für viele Kolleginnen und Kollegen, aber auch für Studierende ist dieser Fachbereich ein unbekanntes Land. Das möchte ich heute ändern, da es mir ein großes Anliegen ist, Ihnen die Geriatrie nahezubringen.“ Mit diesen Worten eröffnete der Facharzt für Innere Medizin, Geriatrie und Neurologie seine Vorlesung, die er in vier Fragestellungen unterteilte: die historische Betrachtung der Altersmedizin, die Definition des geriatrischen Patienten, die Beantwortung der Frage ‚Was macht eigentlich ein Geriater?‘ und die Begründung, warum die Geriatrie kein Nebenfach ist.
Kennzeichen: Alterstypische Multimorbidität
Die Geriatrie als Lehre der Krankheiten des alternden Menschen umfasst alle psychologischen, sozialen, präventiven, klinischen und therapeutischen Belange. Ursprünglich war sie als dauerhafte pflegerische Betreuung von alten Menschen gedacht und in Pflegeheimen verortet. Anfang des 19. Jahrhunderts erhielt sie in Anlehnung an die Pädiatrie (Kinderheilkunde) ihren Namen. Mit der Zeit wurde diese Fachrichtung als eigene Disziplin zur Behandlung und Betreuung multimorbider älterer Patientinnen und Patienten mit Zugang zur Diagnostik im Krankenhaus etabliert. Aktuell gibt es 13 Lehrstühle in Deutschland. Laut Definition ist der geriatrische Patient überwiegend 70 Jahre alt oder älter, leidet unter einer alterstypischen Multimorbidität aufgrund erhöhter Vulnerabilität (Verletzbarkeit). Gründe hierfür sind Komplikationen und Folgeerkrankungen nach Verletzungen oder Krankheiten und die Gefahr, dass diese chronisch werden. Über allem schwebt immer das erhöhte Risiko, die gewohnte Autonomie sowie die Alltagskompetenz zu verlieren. Um den Status von geriatrischen Patienten feststellen zu können, werden diese mit Blick auf 14 Merkmale von Sturzneigung und Schwindel über kognitive oder auditive Einschränkungen bis zu Medikationsproblemen untersucht. Bereits zwei dieser Merkmale sind ein Hinweis auf eine Geriatrie-typische Multimobilität. Bei der Anamnese hilft zusätzlich der 1965 in Amerika konzipierte Barthel-Index, anhand dessen die alltäglichen Fähigkeiten eines Patienten und die Selbständigkeit bzw. Pflegebedürftigkeit eingeschätzt werden können.
Geriater als Advokat, Fürsprecher und Lotse
Eines stellte Dr. Lerch nach dieser Definition klar: „Senioren sind keine altgewordenen Erwachsenen, sondern brauchen einen kenntnisreichen Ansprechpartner. Natürlich brauchen wir alle im Alter immer mehr Unterstützung. Aber es hat niemals ein Zeitalter in der Menschheitsgeschichte gegeben, in der Alte so wohlhabend und aktiv waren, also so gut alt werden konnten. Bei manchen meiner ärztlichen Kolleginnen und Kollegen anderer Fachbereiche gilt bei älteren Patientinnen und Patienten in ihren Abteilungen immer noch der Satz, dass sich im Zweifel die Geriatrie schon kümmern werde. Dabei ist der Geriater alles, nur kein ‚Aufbewahrer‘ von schwierigen oder arbeitsintensiven Patientinnen und Patienten“, erklärte Dr. Lerch mit Nachdruck. Er sei vielmehr deren Advokat, Fürsprecher und Lotse auf dem Behandlungsweg. Außerdem sei er Spezialist, Netzwerker, (Begleit-)Forscher, Diagnostiker und Moderator. „Der Geriater ist quasi der ‚letzte Generalist‘ unter den Klinikern, der neben guten medizinisch-klinischen Kenntnissen vor allem drei weitere Dinge braucht: Geduld, Empathie und den ‚Sherlock Holmes-Faktor‘, um über den Tellerrand hinaus zu denken und in der Versorgung der betagten Patienten erfolgreich zu sein.“ Im Laufe des Vortrags wurde mehr als deutlich, dass Dr. Lerch selbst die Personifikation dieses Steckbriefs zu sein scheint. „Wenn ich persönlich gefragt werde, was ein Geriater eigentlich mache, sage ich gern: Er setzt primär Medikamente ab. Manche Patienten überleben den ärztlich verordneten Patientencocktail, der dringend von Zeit zu Zeit überprüft werden muss, nämlich nur, weil sie ihn erst gar nicht einnehmen“, verriet Dr. Lerch mit einem Augenzwinkern.
Geriater braucht auch den 'Sherlock-Holmes-Faktor'
Für ihn zähle die Polypharmazie zu einem der schlimmsten Problemfelder in der Altersmedizin. Maximal fünf Präparate könne ein Patient über den Tag seines Erachtens zuverlässig zu den richtigen Zeiten einnehmen. Im schlimmsten Fall könne die falsche Medikamenteneinnahme zu einem akuten verwirrten Zustand (Delir) und infolgedessen zu Stürzen führen. Welche anderen Ursachen (z.B. kognitive oder auditive Beeinträchtigungen sowie Natriummangel) ein Delir verursachten, stellte der Geriater anschließend in zahlreichen plakativen Fallbeispielen vor. Sie machten deutlich, warum er das Vorgehen eines Altersmediziners zuvor mit dem des englischen Detektivs verglichen hatte. Bei Ursachenforschung zähle er dabei immer auf die Kenntnisse aller geriatrisch geschulten Team-Mitglieder aus der Pflege, der Ernährungsberatung, der Ergo- und Logopädie, der Physiotherapie, der Neuropsychologie, der Diabetesberatung, aber auch der Seelsorge. In der Teamkonferenz könnten körperlich funktionelle Defizite, mentale und psychische Probleme sowie das soziale Umfeld am besten gemeinsam bewertet werden. Dies sei wichtig, um über Weiterbehandlungen und Therapien zu entscheiden sowie notwendige Hilfsmittel zu bestimmen. Alle Behandlungen und Bemühungen dienten letztendlich nur dem einen Ziel, nämlich für Gesundheit und Autonomie im Alter sorgen.
In Hamburg dient ein ganzes geriatrisches Kompetenznetzwerk namens Ancoris (LINK) genau diesem Ziel. Die geriatrische Abteilung von Dr. Lerch im AK Wandbek ist dabei die größte. Gemeinsam mit den Standorten Rissen, Harburg und Heidberg-Nord hat sich das Netzwerk für Patientinnen und Patienten auf die Fahnen geschrieben, die optimale abgestimmte Versorgung geriatrischer Patientinnen und Patienten in allen Hamburger Asklepios-Kliniken zu vereinheitlichen und interdisziplinär durchzuführen. Der Schwerpunkt des Exzellenznetzwerks liegt auf der geriatrisch frührehabilitativen Komplexbehandlung (GFK), die im klinisch-stationären Bereich stattfindet. Auch wenn Heilung nicht in allen Fällen möglich ist, so steht doch die bestmögliche Linderung altersmedizinischer Probleme und grundsätzlich die Verbesserung der Selbständigkeit der Patientinnen und Patienten auf der medizinischen Agenda.
Ringvorlesung Asklepios Centers of Excellence am ACH
Nächster Termin:
22.04. RV 28 Psychiatrie und Psychotherapie, Michael Leistner, AK Wiesen