„Auch diese Menschen werden ihre Patienten sein“
CaFée mit Herz Geschäftsführerin Margot Glunz berichtet am ACH im Rahmen des Vorbereitungskurses für die Studentische Poliklinik Hamburg (StuPoli HH) über den Alltag in der Obdachloseneinrichtung.
Die wöchentlichen Vorträge zu häufigen Krankheitsbildern (Modul 2) im aktuellen Herbstsemester dienen der Vorbereitung auf die studentische Mitarbeit in der StuPoli HH ab Frühjahrssemester 2018. Davor wurden in einer zweitägigen Einführungsveranstaltung (Modul 1) Grundlagen zu Anamnese und verschiedenen Untersuchungstechniken vermittelt.
In dem Auftaktvortrag am 9. Oktober geht es vor allem um ein Thema: die Menschen, für die das Angebot der medizinischen Sprechstunde, betrieben durch ACH Studierende, geplant ist. Margot Glunz leitet die Obdachloseneinrichtung CaFée mit Herz im Gesundheitszentrum St. Pauli (altes Hafenkrankenhaus), wo die StuPoli HH Anfang kommenden Jahres einen Raum beziehen wird.
Schon vor Beginn des Vortrags umringen mehr als 20 Studierende die Referentin und stellen Fragen zu den unterschiedlichsten auch organisatorischen Themen. Offiziell begrüßt werden sie dann von Richard Drexler, ACH Student im 7. Semester, Leiter des Projekt-Subkomitees Lehre und Organisator des Vortragsabends.
Die Referentin beginnt mit einer Bestandsaufnahme: Fünf Prozent der Besucher sind Deutsche, 70 Prozent kommen vorwiegend aus Ost-/Südosteuropa, ein weiterer Teil aus Afrika. Ungefähr zehn Prozent sind weiblich. Drei Viertel der Besucher sind obdachlos. Sehr wenige bekommen Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld II und haben somit eine Krankenversicherung.
„Dabei hat selbst Armut eine Hierarchie“, wie Margot Glunz berichtet: Ganz oben stehen die zehn Prozent Rentner mit einer knappen Grundrente, einer eigenen Wohnung oder einem Platz im Seniorenheim. Danach kommen die Hartz IV-Empfänger, die sich wiederum im Sozialgefüge in drei Gruppen einteilen: Menschen, die ein durch die ARGE (Arbeitsgemeinschaft, ehemalige Bezeichnung für die Jobcenter) finanzierte Wohnung inkl. Heiz- und Nebenkosten haben, jedoch den Strom selbst zahlen müssen; bleibt die Rechnung offen, sitzen die Menschen ohne Strom für Licht, elektrische Geräte etc. da. Diejenigen, die ein Zimmer in einer Pension bezahlt bekommen, haben zwar Strom, aber meist keine Küche und sehr kleine Zimmer. Dann folgen die Männer, die in einem Mehrbettzimmer im Männerwohnheim leben und sich die sanitären Anlagen mit allen anderen teilen. Ganz unten stehen schließlich die Obdachlosen. Je nach Gruppe sind die Menschen auffällig in ihrem Verhalten, haben oft psychische Probleme und nicht selten auch ein Alkoholproblem. Die Mitglieder all dieser Gruppen grenzen sich klar gegeneinander ab, und selbst innerhalb der einzelnen Gruppen gibt es entgegen manchem sozialromantischen Klischee wenig Solidarität, sondern höchstens Zweckgemeinschaften, z.B. um Diebstahl oder im Falle von Frauen die Vergewaltigung durch andere Obdachlose zu verhindern.
Im CaFée mit Herz geht es jedoch (im Gegensatz teilweise zu vergleichbaren Einrichtungen in der Hansestadt) sehr friedlich zu, so dass im Speisesaal an die Gäste (wie Frau Glunz die Besucher respektvoll und liebevoll nennt) sogar Gabeln und Messer ausgegeben werden können, was keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist. Diese Disziplin verdankt sich einigen einfachen Tatsachen und Spielregeln: Das Essensangebot im CaFée mit Herz hat in jeder Hinsicht die Qualität eines guten Kantinenessens und ist daher sehr bekannt und geschätzt, alle Gäste werden gleich behandelt und ohne Wertung und ohne Fragen bedient, das CaFée mit Herz versteht sich als Schutzraum (außer wenn Frau Glunz kriminelle Taten kennt und meldet) und wird als solcher von Behörden und Polizei toleriert, Betrunkene werden nicht eingelassen, einmal Hausverbot bedeutet immer Hausverbot, die Bediensteten in Küche und Speisesaal sind selber Obdachlose, und bei den geringsten Anzeichen von Lärm und Streit schreitet Frau Glunz sofort persönlich ein. In all den Jahren ist sie aufgrund ihrer Autorität noch kein einziges Mal bedroht worden.
Über ein kostenloses Frühstück und Mittagessen hinaus – ca. 100.000 Mahlzeiten sind im Jahr 2016 ausgegeben worden – erhalten die bis zu vierhundert Gäste an der Seewartenstraße Gelegenheit zu duschen, sich in der Kleiderstube einzudecken oder die wöchentliche Sprechstunde eines Allgemeinmediziners zu besuchen, der sich allerdings zum Ende des Jahres zurückziehen wird. Ungeschönt schildert Frau Glunz den Studierenden die Hygienestandards, die sie bei manchen StuPoli-Besuchern erwarten müssen: „Auch diese Menschen werden ihre Patienten sein“. Manche kommen allerdings auch nur, um einen Blick in den Posteingang zu werfen – das CaFée mit Herz bietet auf Wunsch eine feste Postadresse außerhalb der bekannten Notunterkünfte an, was bei der Suche nach Wohnung und Arbeit ein großer Vorteil ist.
Nicht ohne – berechtigten – Stolz weist Frau Glunz auf das Netzwerk an privaten Freunden und Förderern hin, das dem CaFée mit Herz die pro Monat im Durchschnitt benötigten 15.000 € Spendengelder und damit die Unabhängigkeit von öffentlichen Geldern sichert. Zugleich verfügt sie über gute Kontakte und hohes Ansehen in Politik und Behörden: so nahm die Sozialsenatorin im vergangenen Jahr an der Weihnachtsfeier des CaFée mit Herz teil (bei der im Übrigen die Hamburger Symphoniker ein Lunch-Konzert gaben), und die Behörde schickt immer wieder ausländische Delegationen zum CaFée mit Herz, die ein erfolgreiches Modell des Umgangs mit Armut und Obdachlosigkeit kennenlernen wollen.
Frau Glunz, früher Geschäftsführerin eines Sicherheitsunternehmens, hat die Leitung des CaFée mit Herz vor elf Jahren übernommen und die Einrichtung seitdem professionell ausgebaut und zu der heutigen Größe, Bekanntheit und Reputation gebracht. Die 67-Jährige kennt ihre Gäste meist seit Jahren und beim Namen und weiß um ihre Herkunft, ihre Schicksale, ihre Probleme, bei deren Lösung sie oft tatkräftig hilft. Besonders am Herzen liegen ihr die obdachlosen Frauen, die ungefähr zehn Prozent aller wohnungslosen Menschen in Hamburg ausmachen. Exemplarisch schildert sie den Studierenden die erschütternden Schicksale dreier Frauen und bezeichnet sie als „private Tragödien, über die nirgends berichtet wird“. Frauen landen aufgrund ihrer meist besseren sozialen Netzwerke zwar seltener und später auf der Straße, sind dann aber deutlich gefährdeter als Männer.
Wie sich der Verlust von Lebensgewohnheiten und sozialer Einbettung anfühlt, hat Margot Glunz bewusst am eigenen Leib erfahren: Zu Beginn ihrer Tätigkeit hat sie sich den Selbstversuch verordnet, einen Monat lang mit dem damaligen Hartz IV-Satz von 356 Euro auszukommen. Ihre wichtigste Erkenntnis: Ein schmaler Geldbeutel führt rasch in die Isolation, da der Besuch von Cafés, Restaurants, Kinos oder kulturellen Veranstaltungen schlicht nicht mehr möglich ist.
Um „Erfahrungen, die wir so noch gar nicht im Kopf haben“, geht es auch Richard Drexler. Auf die Frage, warum er sich für die Leitung des StuPoli-Subkomitees Lehre gemeldet hat, antwortet der 22-Jährige: „Mich hat der humanitäre Gedanke, den unser Geschäftsführer Dr. Christoph Jermann vorlebt und mit der StuPoli initiiert hat, einfach fasziniert und überzeugt. Ich sehe das ganz schlicht als Verpflichtung für uns Medizin-Studenten, uns zu engagieren. Das Wichtigste war für mich zunächst, dass der jetzt laufende Wahlkurs steht. Auch sonst sind wir mit dem Projekt gut im Zeitplan, sind alle sehr motiviert und engagiert - und freuen uns, wenn es im Februar dann endlich mit der Sprechstunde unter der Supervision von drei sehr erfahrenen und überzeugten Ärzten losgehen kann.“