Von der neuen Irrenanstalt zu Göttingen zum Asklepios Fachklinikum Göttingen
Psychiatrie auf dem Leineberg
Die Königliche Landesirrenanstalt zu Göttingen wurde im Frühjahr 1866 von König Georg V. gegründet. Nach dreijähriger Bauzeit wurde das speziell für nervenkranke Patienten errichtete Krankenhaus am 3. April 1866 in Betrieb genommen und war damit der erste Zweckbau einer Irrenanstalt im Königreich Hannover. Es diente zum einen zur Versorgung von psychisch erkrankten Patienten aus dem südlichen Teil des Landkreises Hannover wie auch zum anderen der Universitätsklinik mit dem Auftrag der Lehre für angehende Ärzte im Fachgebiet der Nervenheilkunde.
Prof. Ludwig Meyer
Erster Direktor wurde der 39jährige Nervenarzt Ludwig Meyer (1827 – 1900) – zugleich erster Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität zu Göttingen. Diese Personalunion – Direktor einer Irrenanstalt und ordentlicher Professor für Psychiatrie und Nervenkrankheiten – bestand in Deutschland bis 1954. Meyer führte das in England entwickelte sogenannte „no-restraint-Prinzip“ in die deutsche Psychiatrie ein. Dieses beruhte auf einer freiheitlichen Behandlung der Patienten und verzichtete auf die damals üblichen brachialen „Therapien“, wie Kälteschockkuren oder auch auf den Gebrauch von Zwangsjacken. Die Einrichtung von Beobachtungszimmern machte bspw. die Anschaffung von einigen Zwangsmitteln überflüssig. Meyer setzte weiter durch, dass keine Gitter vor den Fenstern angebracht wurden. Der rücksichtsvollere Umgang mit den Patienten wurde eine der Grundfesten in der Behandlung der Kranken. Schuldzuweisungen oder Bestrafungen wurden vermieden, um Halluzinationen und Wahnvorstellungen nicht noch zu verstärken.
Wichtige Gründe für den Standort Göttingen waren die Entlastung der Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim, der damals größten Anstalt Deutschlands sowie die enge Verbindung zur hiesigen Universität. Geplant für 250 Geisteskranke, ermöglichte es die großzügige Bauweise mit vielen Räumen einige Jahre später, sogar bis zu 350 Patienten unterzubringen. Die Bauleiter bereisten zuvor andere „moderne“ Irrenanstalten und arbeiteten anschließend die Baupläne für die neue Anstalt aus. Der Bauuntergrund bereitete einige Schwierigkeiten, die nur durch höheren Bauaufwand und längere Bauzeiten beseitigt werden konnten. Das Gebäude wurde nach modernen Erkenntnissen konzipiert und großzügig ausgestattet. Meyer war jedoch mit der Gestaltung nicht zufrieden und forderte umfangreiche Umbauarbeiten bereits zu Beginn (z. B. keine Gitter an den Fenstern). Die Anstalt besaß einen Hörsaal. In ihm fand die universitäre Lehre statt und wurde zur Ausbildung des Personals genutzt. Die symmetrische Bauweise des Gebäudes trug dem grundsätzlichen Ordnungsprinzip der Psychiatrie Rechnung – der Geschlechtertrennung. Innerhalb der Geschlechter wurden die Patienten in drei Klassen eingeteilt. Mehr Privilegien hatten diejenigen der ersten Klasse, beispielsweise bessere Verpflegung, Einzelzimmer oder die Freiheit zu entscheiden, ob, was oder wie lange sie arbeiten wollten.
Eine weitere Besonderheit war die Selbstversorgung, die den Bestand der Anstalt sicherte. Die Selbstversorgung bezog sich auf alle Gebiete des täglichen Lebens. Insbesondere wurden Obst und Gemüse angebaut und Vieh gehalten; hierfür kaufte die Anstaltsleitung mit Genehmigung der Landesdirektion größere Flächen zur landwirtschaftlichen Nutzung an. In der hauseigenen Schneiderei und Schuhmacherwerkstatt wurden Kleidung und Schuhe hergestellt. Die erarbeiteten Überschüsse wurden auf dem Markt verkauft und der Erlös kam den Patienten zu Gute. Die Möglichkeit für Patienten, während des Klinikaufenthalts zu arbeiten, war die Grundlage für die später entwickelte Arbeitstherapie. Das Haus verfügte auch über eine eigene Bibliothek und es fanden regelmäßig Tanzabende statt. Um das Gefühl der Normalität zu unterstützen, nahmen die Ärzte jeden Tag am gemeinschaftlichen Mittagessen teil. Dieses für die damaligen Zeiten moderne Konzept einer psychiatrischen Klinik beinhaltete auch die medikamentöse Behandlung, zum Beispiel mit Opium gegen Panikzustände. Erstmals wurden auch Krankenakten für Patienten angelegt; die Behandlungsbedingungen und das gesamte Anstaltsleben verbesserten sich dadurch merklich.
Steigende Patientenzahlen machten die Erweiterung und den Bau von neuen Gebäuden notwendig. Die Industrialisierung in Deutschland und die damit einhergehenden schlechteren Arbeitsbedingungen führten vermehrt zu psychischen Erkrankungen und damit zu einer Steigerung der Patientenzahlen. Bis 1888 wurden daher zwei weitere Häuser im Pavillon-Stil errichtet. Diese befanden sich außerhalb der Anstaltsmauern und wurden von Meyer als „Kliniken“ bezeichnet. In diesen Villen waren Patienten untergebracht, die hauptsächlich für die medizinische Lehre bedeutsam waren und keinen hohen Pflegeaufwand erforderten. Die psychiatrische Behandlung gewann durch vermehrte Studien und Forschungsarbeit immer mehr naturwissenschaftliche Züge. Um das damalig herrschende Anstaltsleben besser zu beschreiben, wurde die Königliche Landesirrenanstalt zu Göttingen in „Heil- und Pflegeanstalt Göttingen“ umbenannt.
Prof. Dr. August Cramer
Als Meyer im Jahre 1900 starb, trat Prof. Dr. Johann Baptist August Cramer (1860 – 1912) seine Nachfolge an. Cramer war unter Meyer seit 1895 Oberarzt und stellvertretender Direktor an der Königlichen Landesirrenanstalt zu Göttingen. Nach dessen Tod wurde Cramer am 22.04.1900 zum Direktor der Heil- und Erziehungsanstalt sowie zum Professor an der Universität zu Göttingen berufen. Cramer entwickelte während seiner Amtszeit als Anstaltsdirektor das psychiatrisch-neurologische Arbeitsfeld in Göttingen erheblich weiter. Er hatte das Wissen und das Organisationstalent, neue Erkenntnisse der Psychiatrie zeitnah in die Praxis umzusetzen und für seine Patienten nutzbar zu machen. Bereits mit Meyer vor dessen Tod regte er das neue Konzept für die Familienpflege an: Um 1900 brachte die Anstalt etwa 100 Pfleglinge in den umliegenden Dörfern innerhalb der Familienpflege unter. So konnten noch einmal mehr Patienten ohne größere bauliche Maßnahmen betreut werden. Um 1901 gründete Cramer die Poliklinik für psychische und Nervenkrankheiten in der Geiststraße (die alte Augenklinik). Aus dieser Gründung entwickelte sich später die Göttinger Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie. Unter seiner Leitung wurde um 1903 das „Provinzialsanatorium für Nervenkranke Rasemühle" gebaut und eröffnet. Das Haus – das heutige Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn – behandelte „Nervöse aller Stände“ und war damit die erste Volksnervenheilstätte. Um 1909 initiierte er die Einrichtung eines Provinzial-Verwahrhauses für verbrecherische Geisteskranke und geisteskranke Verbrecher der Provinz Hannover.
Cramer machte sich auch als Wegbereiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie einen Namen. Die Göttinger Nervenärzte studierten das Verhalten ausgewählter Fürsorgezöglinge. Kurz vor seinen Tod 1912 veranlasst er den Bau einer Heil- und Erziehungsanstalt für psychopathische Fürsorgezöglinge; der ersten Erziehungsanstalt, an deren Spitze kein Pädagoge, sondern ein Arzt stand (ehemals Niedersächsisches Landesjugendheim, heute Jugendstrafvollzug).
Ausdruck des sozialen Engagements Cramers innerhalb der Anstalt waren der Bau des großen Gesellschaftshauses um 1905 sowie der Bau der Kegelbahn um 1906. Das Beamtenwohnhaus wurde fertiggestellt und der Bau der Pfleger-Siedlung – in der heutigen Ernst-Schultze-Straße – begonnen. Neben Erweiterungsmaßnahmen, wie z. B. den Bau der beiden Lazarette sowie den Ausbau der Werkstätten wurden auch die Versorgungseinrichtungen auf den damaligen neuesten technischen Stand gebracht: Eine zentrale Wasserleitung von der Rasemühle zur Anstalt sorgte für eine unabhängige und ausreichende Wasserversorgung, die Küche wurde vergrößert und das neu gebaute Waschhaus hatte einen Fahrstuhl sowie einen Trockenboden mit Warmluftgebläse.
Prof. Dr. Ernst Schultze
Cramer verstarb 1912 mit 52 Jahren überraschend. Sein Nachfolger wurde Prof. Dr. Ernst Schultze (1865 – 1938). Schultze leitete die Anstalt von 1912 bis 1933. Nach Beendigung seiner Dienstzeit wurde er regulär emeritiert; man bat ihn jedoch, mangels Nachfolger, die Einrichtung noch ein weiteres Jahr bis Herbst 1934 kommissarisch zu leiten. Die Dienstjahre waren nicht einfach: Im 1. Weltkrieg starben viele Patienten im sog. „Steckrüben-Winter“ 1916/1917 an Unterernährung; die Inflation und die Weltwirtschaftskrise lähmten die Welt und die Anfänge des Nationalsozialismus´ machten eine kontinuierliche Weiterentwicklung fast unmöglich. Und doch erweiterte er die Universitätsnervenklinik in der Geiststraße und ließ ein Schwesternhaus und eine Enzephalitis-Station errichten. 1924 wurde Schultze zum psychiatrischen Gutachter im Fall des Hannoverschen Serienmörders Fritz Haarmann bestellt. Seine Gespräche mit dem Täter wurden protokolliert und dienten 1995 als Grundlage für den Film „Der Totmacher“.
Prof. Dr. Gottfried Ewald
Adolf Hitler wurde Reichskanzler, die Zeit des Nationalsozialismus begann. Die Suche nach einem Nachfolger Schultzes als Direktor der Heil- und Pflegeanstalt dauerte recht lange. Hintergrund war der Streit zwischen der NSDAP und der Universität auf der einen und den staatlichen Entscheidungsträgern auf der anderen Seite über die Besetzung insbesondere des wichtigen Lehrstuhls für Psychiatrie und Neurologie an der Universität. Letztlich setzten sich die staatlichen Verantwortungsträger mit der Einsetzung von Prof. Dr. Gottfried Ewald (1888 – 1963) durch. Ihn lockte man von Greifswald nach Göttingen, indem man ihm den Bau einer neuen Universitätsnervenklinik in Göttingen versprach, deren Direktor er werden sollte. Ewald hatte von Beginn an mit massiven Kosteneinsparungen, der Einstellung oder der Nichtausführung von Baumaßnahmen und der Verschlechterung der Therapieangebote zu kämpfen. Zudem war er als Leiter einer Anstalt für psychisch Kranke unter dem nationalsozialistischen Regime zur Umsetzung der Bestimmungen zu Erbgesundheit und Rassenhygiene angehalten. Trotz dessen war ihm das Wohl seiner Patienten immer wichtig.
Während der Herrschaft der Nationalsozialisten befürwortete Ewald die Zwangssterilisation aus medizinischen und aus eugenischen Gründen und sah die Sterilisation als Möglichkeit zur Verhinderung von Erbkrankheiten. Andererseits war er nicht bereit, die NS-Euthanasiepolitik mitzutragen. Die Konferenz in Berlin „Zur Erörterung dringender kriegswichtiger Maßnahmen auf dem Gebiet des Heil- und Pflegewesens“ im August 1940 versuchte, namhafte Psychiater als T4-Gutachter für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im Rahmen der NS-Euthanasie zu gewinnen. Auch Ewald nahm an dieser Konferenz teil, erhob aber während der Sitzung offen Widerspruch gegen die Tötung von Patienten und wurde daraufhin von der Konferenz ausgeschlossen. Auch zurück in Göttingen äußerte er sich öffentlich gegen die sog. T4-Aktion und übte mehrfach schriftlichen Protest gegen die Verschleppung und Ermordung psychisch Erkrankter. Ewald konnte etwa 130 Patienten das Leben retten, indem er bspw. ihre Wichtigkeit für die Lehre als „wertvolles Demonstrationsobjekt“ für die Studenten versicherte oder sie als „unentbehrliche Arbeiter“ kennzeichnete. Aber auch er in seiner Funktion als Direktor konnte er „in Kenntnis ihres Schicksals“ nicht verhindern, dass über 238 Patienten von den 369 zur Ermordung vorgesehenen Göttinger Patienten in unterschiedliche Vernichtungslager abtransportiert wurden. Bekannt sind vier Transporte im Zeitraum März bis August 1941 von Göttingen in Richtung Pirna-Sonnenstein und Hadamar (bei Frankfurt/Main).
Auch nach Kriegsende kämpfte Ewald für seine Patienten und gegen das Elend in den Hungerjahren der Nachkriegszeit. Trotzdem war die Lage für die Kranken schlecht, Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und mangelnde Ernährung und Kleidung schufen kaum zu bewältigende Probleme. Bis 1952 hatte Ewald es aber geschafft, alle an das Militär abgetretenen Gebäudeteile wieder für die Versorgung der Kranken zur Verfügung zu haben. Ewald leitete bis 1954 als letzter in Personalunion sowohl die Heil- und Pflegeanstalt als auch die neurologisch-psychiatrische Nervenklinik der Universität. Bereits seit seiner Berufung nach Göttingen propagierte er die Trennung der beiden Ämter, was er mit der Niederlegung der Leitung der Heil- und Pflegeanstalt schließlich umsetzte.
Ewald versuchte, seinem geschworenen ärztlichen Eid gerecht zu werden. Im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten setzte er sich für seine Patienten ein. Er musste im Rahmen von T4 überlegen und entscheiden, welche Patienten und dann aus welchen Gründen er in der Anstalt behalten konnte und welche nicht. Dieses Wissen hat ihn bis zu seinem Tod im Jahre 1963 belastet.
Prof. Dr. Dr. Gerhard Kloos
Die Heil- und Pflegeanstalt hieß mittlerweile „Niedersächsisches Landeskrankenhaus Göttingen“. Ewalds Nachfolger auf dem Direktorenposten war Prof. Dr. Dr. Gerhard Kloos (1906 – 1988). Er führte dieses Amt bis 1968. Kloos wurde durch den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Kopf berufen; entgegen der oft üblichen Vorgehensweise, den Stellvertreter des bisherigen Direktors als Nachfolger einzusetzen. Er befürwortete die Zwangssterilisation und die Euthanasie, leitete die Thüringischen Landesheilanstalten Stadtroda mit einer sog. Kinderfachabteilung zu Kriegszeiten und hielt auch nach Kriegsende Kontakt zu den Hauptpersonen der T4 Aktion. Eine schwer nachzuvollziehende Berufung. 1961 fand gegen Kloos ein Prozess vor dem Landgericht Göttingen wegen seiner Verantwortung im Nationalsozialismus statt; dieser endete mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen. Unter seiner Leitung entstand Ende der fünfziger Jahre das Gebäude am Tonkuhlenweg; die erste größere Baumaßnahme seit den zwanziger Jahren.
Prof. Dr. Ulrich Venzlaff
Prof. Dr. Ulrich Venzlaff (1921 – 2013) übernahm 1969 ärztliche Leitung des Landeskrankenhauses, die er bis 1986 innehatte. Er schaffte es erfolgreich, die aus heutiger Sicht menschenunwürdigen Behandlungs- und Lebensbedingungen der psychisch Kranken zu verbessern. Weitere Schwerpunkte seiner Arbeit waren die Behandlung traumatisierter Personen aus der Zeit des Nationalsozialismus sowie die Entwicklung der Forensischen Psychiatrie unter wissenschaftlichen und therapeutischen Aspekten. So führte er bereits 1975 die erste offene Station des Maßregelvollzuges in einem deutschen psychiatrischen Krankenhaus ein. Der eingeleitete Wandel seiner Klinik von einer psychiatrischen Anstalt in ein modernes Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie zeigt sich auch durch bauliche Umgestaltung des Krankenhauskomplexes während seines Direktorats. So wurden der große neue Werkstattkomplex (1975) mit Küche, Werkstätten, neuem Heizhaus und Prosektur errichtet. 1977 begann der Bau des Bettenhauses und den dazugehörigen klinischen Einrichtungen (bis 1983). Für das 1980 abgebrannte Gesellschaftshaus entstand ab 1983 das heutige Sozialzentrum. Die feierliche Einweihung fand 1985 statt. Das Arbeitsklima in der von ihm geleiteten Klinik und die Fachkompetenz Venzlaffs zogen viele kompetente Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in das Göttinger Landeskrankenhaus. Einige, die von ihm ausgebildet wurden, sind selbst Klinikdirektoren. So auch der ehemalige Ärztliche Direktor des Asklepios Fachklinikums Göttingen, Dr. Manfred Koller.