Sektion Rückenmarkchirurgie

1. Erkrankungen des Rückenmarks

Erkrankungen des Rückenmarks können zu Störungen der Sensibilität, der Motorik, des Gehvermögens, der Kontrolle von Blase und Mastdarm sowie zu Schmerzen und Mißempfindungen führen. Das Spektrum reicht von angeborenen Fehlbildungen des Rückenmarks über Tumoren im und am Rückenmark, Zystenbildungen (Syringomyelie), Erkrankungen der Rückenmarkshäute bis zu Spätfolgen von Rückenmarkverletzungen oder früheren operativen Behandlungen. Je nach Krankheitsbild können Rückenmarkerkrankungen zu Veränderungen der Knochen und Gelenke der Wirbelsäule führen oder umgekehrt auch durch Erkrankungen der knöchernen Wirbelsäule ausgelöst sein.

Die Mehrzahl der Patienten hat eine lange Krankengeschichte hinter sich, die gekennzeichnet ist durch eine langsam, oft schleichend erkennbare Verschlechterung neurologischer Beschwerden. Hinzu kommt, daß die meisten dieser Krankheitsbilder selten vorkommen und daher die Diagnose früher erst relativ spät gestellt wurde. Durch moderne Diagnostikverfahren – hier ist insbesondere die Kernspintomographie (MRT) zu nennen - haben sich die Behandlungsmöglichkeiten in den letzten Jahren erheblich verbessert, da die Patienten auch bei seltenen Erkrankungen nun frühzeitiger diagnostiziert werden. 

 

  • Tumorerkrankungen des Rückenmarks

Hier sind Tumoren, die im Rückenmark liegen (sog. intramedulläre Tumoren), von denen zu unterscheiden, die außerhalb des Rückenmarks entstehen und es von außen komprimieren (sog. extramedulläre Tumoren). Statistisch sind ca. 95% dieser Tumoren gutartig und wachsen sehr langsam. Das bedeutet, daß eine Bestrahlung oder Chemotherapie für diese Tumoren nicht in Betracht kommt, da derartige Therapien in aller Regel langfristig unwirksam sind. Die Behandlung der Wahl ist die operative Entfernung, die möglichst frühzeitig erfolgen sollte, bevor gravierende Behinderungen schon eingetreten sind. Dieser Grundsatz gilt vor allem für intramedulläre Tumoren. Durch die modernen Kernspingeräte bekommt man heute hochauflösende Bilder des Rückenmarks, die eine genaue Planung der Operation erlauben. Intraoperativ kann zusätzlich durch kontinuierliche Messungen der Nervenbahnen während der Operation (sog. intraoperatives Monitoring) dem Operateur jederzeit gemeldet werden, wie einzelne Nervenfunktionen während der Operation reagieren.

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Dies hilft, die Präparation so vorzunehmen, daß das Risiko von bleibenden Schäden an Nerven oder Rückenmark so klein wie möglich gehalten werden kann. Ziel der Operation ist es immer, den Tumor möglichst vollständig zu entfernen und die neurologischen Funktionen des Rückenmarks dabei zumindest zu erhalten, wenn nicht sogar wieder zu verbessern. Bei Ersteingriffen gelingt eine vollständige Tumorentfernung bei intramedullären Tumoren in mehr als 85%, bei extramedullären Tumoren in mehr als 90% der Patienten.

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  • Fehlbildungen des Rückenmarks

Fehlbildungen des Rückenmarks treten in vielen Fällen in Kombination mit knöchernen Fehlbildungen der Wirbelsäule auf. Dabei stehen zwei Mechanismen im Vordergrund, die die Funktionen des Rückenmarks schädigen. Zum einen findet man bei vielen Fehlbildungen eine Fixierung des Rückenmarks (sog. Tetherd Cord) entweder durch ein verdicktes Filum Terminale am unteren Ende, durch Anheftungen an der harten Rückenmarkshaut (Dura) oder durch Knochensporne und Weichteilstränge, die das Rückenmark durchdringen und in zwei Anteile spalten (sog. Split Cord Malformationen bzw. Diastematomyelien). Fixierungen des Rückenmarks gleich welcher Art haben chronische Durchblutungsstörungen sowie Schäden durch Dehnung von Nerven bei Körperbewegungen zur Folge. Zum zweiten kann das Rückenmark bei Fehlbildungen auch von außen komprimiert werden durch Einengungen des Wirbelkanals aufgrund begleitender knöcherner Fehlbildungen, durch degenerative Veränderungen oder durch Mißbildungstumoren (Lipome, Dermoide, Epidermoide, glioependymale und neurenterische Zysten). Das bedeutet, daß jeder betroffene Patient genau untersucht werden muß, ob eine Fixierung oder Kompression des Rückenmarks oder gar beides in Kombination vorliegt, um die richtige Behandlungsstrategie festzulegen. Gerade dann, wenn Fehlbildungen des Rückenmarks im Erwachsenenalter symptomatisch werden und behandelt werden müssen, ist ein frühzeitiger Eingriff mit der richtigen Strategie für ein gutes langfristiges Ergebnis entscheidend

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(A) Extramedulläre Dermoidzyste in Höhe BWK12 mit Anteilen auch im Rückenmark. 1 Jahr nach Entfernung der Zyste keine Anzeichen für ein Rezidiv (B) bei erhaltener Mobilität und Kontrolle über Blase und Mastdarm sowie gebesserten Schmerzen

2. Syringomyelie

Mit dem Begriff der Syringomyelie wird eine Zystenbildung innerhalb des Rückenmarks beschrieben. Allerdings sollte nicht jede zystische Veränderung im Rückenmark als Syringomyelie angesprochen werden. Vor allem die Erweiterung des sog. Zentralkanals im Rückenmark, der einer normalen anatomischen Struktur entspricht, hat keinerlei Krankheitswert und kann bei Kernspinuntersuchungen fälschlicherweise als Syringomyelie fehlgedeutet werden. 

Zahlreiche Untersuchungen in den letzten 40 Jahren haben gezeigt, daß die Syringomyelie keine eigenständige Erkrankung des Rückenmarks ist, sondern immer durch eine andere Erkrankung sekundär ausgelöst wird. Das bedeutet, daß bei jeder Syringomyelie diese auslösende Grunderkrankung diagnostiziert werden muß. Wird diese Grunderkrankung dann erfolgreich behandelt, geht die Syringomyelie wieder zurück.

Am häufigsten entsteht eine Syringomyelie durch Krankheitsbilder, die zu einer Behinderung der Passage des Hirnwassers (Liquors) um bzw. entlang des Rückenmarks führen. Andere mögliche Auslöser sind Tumoren im Rückenmark oder Rückenmarkfehlbildungen. In etwa 90% der von einer Syringomyelie betroffenen Patienten kann eine ursächliche, sog. kausale Behandlung angeboten werden. Dies setzt aber eine exakte Diagnostik und genaue Planung des Eingriffs voraus, damit sich im Anschluß die Syringomyelie zurückbilden kann.

Unabhängig vom Auslöser der Syringomyelie zeigten die postoperativen Ergebnisse, daß besonders die Symptome, die durch die auslösende Erkrankung verursacht wurden, gebessert werden konnten, während die Beschwerden, die man der Syringomyelie zuschreiben muß, weniger gut ansprachen. Dies gilt leider insbesondere für neuropathische Schmerzen, die sich allenfalls bei einem Drittel der Patienten bessern liessen. Umso wichtiger ist auch also auch für diese Patienten, möglichst dann zu operieren, wenn gravierende Beschwerden wie insbesondere neuropathische Schmerzen noch nicht eingetreten sind.

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(A) Syringomyelie von HWK4 bis BWK8 durch eine das Rückenmark von hinten komprimierende Arachnopathie bei BWK8/BWK9. (B) 4 Monate nach Entfernung der Arachnopathie erkennt man ein völliges Verschwinden der Syringomyelie bei Erhalt der neurologischen Funktionen und Besserung der Mißempfindungen

3. Erkrankungen der Rückenmarkhäute

Hier sind Erkrankungen der weichen Rückenmarkhäute (sog. Arachnoidea) von denen der harten Rückenmarkhaut (sog. Dura) zu unterscheiden.  Erkrankungen der Arachnoidea – sog. Arachnopathien – können zu Fixierung des Rückenmarks an der Dura, zu Durchblutungsstörungen von Nerven und Rückenmark und zu Behinderungen der Liquorpassage führen. Letzteres führt dann häufig zu einer Kompression des Rückenmarks von außen, wenn sich Taschen oder Arachhnoidalzysten gebildet haben, und zu einer Syringomylie. Für die meisten Arachnopathien kann man die Ursache nicht nachweisen und nimmt daher eine angeborene Veränderung der Arachnoidea an. Bei etwa 30% der Betroffenen kennt man allerdings die Ursache einer Arachnopathie. Infrage kommen Verletzungen, operative Behandlungen am Rückenmark sowie Spätfolgen einer Hirn- bzw. Rückenmarkshautentzündung (Meningitis) oder einer Blutung in den Liquorraum (sog. Subarachnoidalblutung). Mit wenigen Ausnahmen betreffen die Arachnopathien hauptsächlich den Bereich der Brustwirbelsäule. Nicht alle Arachnopathien führen auch zu Beschwerden und bedürfen einer operativen Behandlung.  Generell wird nur bei symptomatischen Patienten eine Operation empfohlen, die dann meist den Krankheitsprozeß zumindest stoppen kann. Sehr schlecht operativ behandelbar sind leider Arachnopathien als Folge von Voroperationen, Entzündungen oder Einblutungen.

 

4. Erkrankungen des Kopf-Hals-Übergangs (Kraniozervikaler   
     Übergang)

Die häufigste Erkrankung in dieser Region ist die Chiari Malformation. Sie wurden ursprünglich von Hans Chiari Ende des 19. Jahrhunderts als Fehlbildungen des Zentralnervensystems gedeutet und in 4 Typen eingeteilt.
Von klinischer Bedeutung sind insbesondere die Typen I und II. Anders als ursprünglich von Chiari vermutet, handelt es sich allerdings nicht um Fehlbildungen des Zentralnervensystems, sondern um Folgezustände eines Missverhältnisses zwischen der Größe des Schädels und der des Gehirns. Je nach Ausmaß und knöcherner Anatomie weichen dann Anteile des Kleinhirns, das im unteren Hinterkopfbereich lokalisiert ist, in den oberen Wirbelkanal aus. Das führt dazu, dass die in den Wirbelkanal ausgewichenen Anteile des Kleinhirns Druck auf Nervenbahnen des Rückenmarks ausüben. Außerdem wird die Passage des Hirnwassers behindert, welches eigentlich um Gehirn und Rückenmark frei zirkulieren soll.

Die Kompression des Rückenmarks und die Passagebehinderung des Hirnwassers können Ursache für eine Vielzahl von Beschwerden sein:

  1. Hinterkopfschmerzen, die beim Husten, Niesen, Lachen oder Pressen ausgelöst werden
  2. Koordinationsstörungen insbesondere der Beine mit der Folge einer Gangunsicherheit
  3. Störungen der Sensibilität am ganzen Körper incl. Missempfindungen
  4. Schluckstörungen durch Beeinträchtigung der Nervensteuerungen für den Schluckakt
  5. Schlafapnoe-Syndrome
  6. Wirbelsäulenfehlstellungen im Sinne von Skoliosen

Dabei variiert das klinische Bild in Abhängigkeit vom Typ der Malformation, dem Alter des Patienten und evtl. Begleitfehlbildungen der Gelenke am Kopf-Hals-Übergang. So können Chiari Malformationen in den ersten 2-3 Lebensjahren durch Druck auf wichtige Nervenzentren zu bedrohlichen Störungen der Atem- und Kreislaufsteuerung und der Schluckfunktionen führen.
Jenseits des 3. Lebensjahres treten solch dramatische Situationen nicht mehr auf. So beobachtet man bei symptomatischen Kindern etwa ab dem Schulalter vor allem im Zusammenhang mit dem Längenwachstum Skoliosen sowie das Auftreten von Koordinationsstörungen.
Bei erwachsenen Patienten mit abgeschlossenem Längenwachstum ist hingegen der Hinterkopfschmerz häufigstes Symptom und betrifft dann etwa 80% der Patienten. Bei Kindern ist dieser Hinterkopfschmerz eher die Ausnahme und wird nur in wenigen Fällen beobachtet.   

Aufgrund der verschiedenen Aspekte muss daher in jedem Einzelfall geprüft werden, ob eine operative Behandlung notwendig ist und wie sie ggf. aussehen muss.

 

 

  • Chiari I Malformation

Sie ist die häufigste Fehlbildung am Kopf-Hals-Übergang und beschreibt eine Konstellation, bei der das Hinterhauptloch – das sog. Foramen Magnum – normal groß angelegt ist und aufgrund der Enge im Schädelinneren nur Anteile der sog. Kleinhirntonsillen in den Wirbelkanal hineingewachsen sind.
Als Folge der Behinderung der Hirnwasserpassage kann es im Verlauf des Lebens zu einer Zystenbildung im Rückenmark, der sog. Syringomyelie, kommen. Die Häufigkeit einer Syringomyelie bei Chiari I steigt mit zunehmenden Alter und liegt bei etwa 50% der Kinder und 75% der Erwachsenen vor. Dass eine Chiari I Malformation die Hirnwasserpassage so weit blockiert, dass daraus ein Hydrozephalus resultiert, wird bei allenfalls 1% der Patienten beobachtet.

Therapie der Wahl für eine Chiari I Malformation ist die sog. Dekompression des Foramen Magnum. Dabei werden knöcherne Anteile vom Hinterkopfknochen und Anteile des ersten Halswirbelbogens entfernt, um dann die darunter liegende, harte Hirnhaut mit einer sog. Erweiterungsplastik zu vergrößern. Dadurch werden die Kompression des Rückenmarks und die Passagebehinderung des Hirnwassers beseitigt.
Insbesondere von amerikanischen Kinderneurochirurgen wird eine rein knöcherne Dekompression ohne Erweiterung der harten Hirnhaut empfohlen. Dieses Verfahren vermeidet einen Teil der möglichen Komplikationen, hat aber nachweislich schlechtere Ergebnisse im Langzeitverlauf.

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(A) Chiari I Malformation mit großer Syringomyelie bis in die Brustwirbelsäule. (B) 3 Monate nach Dekompression des Foramen Magnum mit Duraerweiterung sind die Kopfschmerzen verschwunden und die Syringomyelie deutlich rückläufig

  • Basiläre Invagination

Bei etwa 10-15% der Patienten mit einer Chiari I Malformation findet man zusätzlich Begleitfehlbildungen von Gelenken des Kopf-Hals-Übergangs, die unter dem Oberbegriff „Basiläre Invagination“ zusammengefasst werden. Darunter versteht man anatomische Konstellationen, bei denen ein Hochstand eines Teils des zweiten Halswirbels – des sog. Dens – zu erkennen ist. Für diese abnorme Position des Dens können verschiedene Ursachen verantwortlich sein:

  • wie knöcherne Fehlbildungen von Schädelbasisknochen
  • Fehlen von Gelenken zwischen Schädel und Wirbelsäule bzw. zwischen einzelnen Wirbeln
  • oder aber eine Instabilität zwischen erstem und zweitem Halswirbelkörper.

Je nach anatomischer Konstellation muss im Einzelfall geprüft werden, ob bei einer geplanten Dekompression der Chiari I Malformation zusätzlich eine Fixierung zwischen erstem und zweitem Halswirbel (HWK1/2) erforderlich wird.

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  • Chiari II Malformation

Diese Fehlbildung ist deutlich seltener als die Chiari I Malformation und betrifft nahezu ausschließlich Patienten mit einer Spina Bifida (sog. „offener Rücken“). Dabei ist die Chiari II Malformation keine fortgeschrittene Form der Chiari I Malformation, sondern ein grundsätzlich anderes Krankheitsbild. Auch hier ist der Schädel für das Gehirn zu klein, dieses Missverhältnis aber bereits vor der Geburt so eklatant, dass es zu einer Erweiterung des Foramen Magnum und teilweise auch des Wirbelkanals in der oberen Halswirbelsäule kommt. Die Behinderung der Hirnwasserpassage ist bei diesem Typ so ausgeprägt, dass fast alle Kinder nach Verschluss der Spina Bifida bereits im Säuglingsalter einen Hydrozephalus bekommen, der dann mit einem sog. Shunt abgeleitet werden muss. Dieser Shunt entlastet den Druck auch am Kopf-Hals-Übergang so nachhaltig, dass danach die oben genannten Beschwerden einer Chiari Malformation meist nicht mehr auftreten. Daher muss nur ein kleiner Teil der Patienten mit einer Chiari II Malformation bei funktionierender Ableitung des Hydrozephalus später noch zusätzlich dekomprimiert werden. Ist dies notwendig, wird die Dekompression nicht wie bei Chiari I am Hinterhauptloch vorgenommen, sondern in der oberen Halswirbelsäule in dem Ausmaß, wie die Kleinhirntonsillen hinunterreichen. 

Bei richtiger Indikationsstellung, d.h. rechtzeitiger Operation und korrekter Strategie, können Patienten mit einer Chiari I Malformation danach ein vollkommen normales Leben führen.
Patienten mit einer zusätzlichen Basilären Invagination sind erfahrungsgemäß bereits bei Diagnosestellung körperlich in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkter als solche, die nur eine Chiari I haben. Sie bleiben meist auch nach einer erfolgreichen Operation körperlich so eingeschränkt, wie sie es vor der Operation waren. Gleiches gilt für Patienten, deren begleitende Syringomyelie bereits vor der Operation symptomatisch geworden ist.

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(A) Chiari II Malformation mit großer Syringomyelie. Die Kleinhirntonsillen reichen bis HWK3 (Pfeil). 3 Monate nach Dekompression mit Stabilisierung der Halswirbelsäule und Erweiterung der Dura ist die Syringomyelie deutlich rückläufig (B) bei verbesserter Motorik der Hände

5. Rehabilitation und Nachsorge

Für viele Patienten, die wegen einer Erkrankung des Rückenmarks operativ behandelt werden müssen, ist im Anschluß eine rehabilitative Therapie in einem dafür geeigneten Zentrum wichtig und Teil der Behandlungsplanung von Beginn an. Bewährt haben sich außerdem ambulante Nachuntersuchungen mit dann aktuellen Kernspinbildern 3 Monate nach dem Eingriff. Dann ist normalerweise der Operationsbereich verheilt und man kann besprechen, wie die weitere Therapie aussehen sollte.

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